Alles hat
einmal ein Ende, auch unser Europa. Wer aber kennt sein
nördliches Schlussstück? Nein, nicht das Touristenmekka
auf der Insel Magerøya, sondern das echte Ende des
Kontinents. Das heißt nämlich Nordkinn, aber soviel sei
verraten – es empfängt nicht jeden.
von Klaus
Haselböck (Text & Fotos)
Das Schiff
der Hurtigrute hat uns ausgespuckt. Es ist kurz nach zehn
Uhr abends, und Mehamn heißt uns willkommen. Oder zumindest
bilden wir uns das ein: Denn die Bewohner, die am Hafenkai
das Anlegen beobachtet haben, bedenken uns eher mit
erstaunten Blicken: Was machen die denn da? Seit wann kann
man denn hier Urlaub machen?
Denn zu
unseren Erstaunen sieht man hier den geographischen
Superlativ, der sich in der Nähe befindet, ausgesprochen
gelassen: »Der nördlichste Punkt des europäischen
Festlandes?« »Ach, ja der ist hier.« »Wie man dort
hinkommt?« »Immer gerade aus! « »Aber was wollt ihr
eigentlich dort?«
Und doch:
65 Kilometer östlich des auf der Insel Magerøya gelegenen
Nordkaps läuft die Halbinsel Nordkinn-Halvøya in einer
langen Felsbank aus. Ihr äußerster Punkt markiert mit 71’8’1"
das Ende des europäischen Festlandes.
Geographische
Rekorde sind hier wahrlich nichts besonderes: Nördlichstes
Museum der Welt, nördlichster Leuchtturm, nördlichstes
Postamt – zwischen Kirkenes und Gamvik scheint die ganze
bewohnte Welt zu enden.
Vor uns
nur Süden
Gudrun und
mir ist es trotzdem ernst: Einmal wollen wir auf ganz Europa
zurückblicken können, wissen, da8 vor uns alles nur mehr
Süden ist – mit einem Wort: Wir wollen zu diesem
Nordkinn. In einer Mulde beim Flughafen schlagen wir unser
Zelt auf. Rechts von uns befinden sich die Ausläufer und
Geräusche der Zivilisation (vor allem in Form einiger
zweimotoriger Flugzeuge), rechts wartet viel, viel Neuland.
Ein überraschend üppig bewachsenes noch dazu. »Das wird
schon nicht so wild werden«, denke ich angesichts der
sanften Pracht beim Wasserholen in der leichten Dämmerung
des ausklingenden Augusts.
Es wurde
zumindest erheblich anders: Als wir am Morgen des
nächsten Tages aufbrechen, schlurfen wir wieder durch die
feuchtnassen Wiesen des Vortages. Doch das ist nur ein
kurzes Glück: Denn nach dem Auf und Ab der ersten Stunden
weicht das Grün erbarmungslosen Schotterhalden, ja
regelrechten Ozeanen aus Steinen. Drei Schritte vor, zwei
zurück, dann große Blöcke, die überklettert werden
wollen und zur Abwechslung wieder glitschige Steine und zum
Drüberstreuen noch tückische Sümpfe. Das alles drückt
gehörig auf die Puste und sorgt dafür, dass unser Tempo
nicht zu schnell wird.
Gegen
die steife Brise
Wenn’s
aber doch zu warm wird unterm Hemd, kommt bei der nächsten
Kuppe sicher ein herzhafter Regenschauer im Gespann mit
einigen steifen Brisen Wind, die die Gesichter dann in den
Kapuzen verschwinden lässt. Die Elemente sorgen schon
dafür, dass wir nur ja nicht in die Versuchung kommen, eine
gemütliche Rast einzulegen!
Das
ist keine Urlandschaft, das ist ein Urmeer, über das wir
ziehen: Wellenkämme hinauf, in die Wellentäler wieder
hinunter und das wieder und wieder. Es hat seinen besonderen
Effekt auf die Psyche: Oben hat der Optimismus seine Spitze
erreicht: Die gewaltige Felszunge des Nordkinns, die wie ein
mahnender Finger ins Meer hinausweist, kommt dann ins
Blickfeld und regt zum Träumen an: Ob wir vielleicht noch
rechtzeitig zum Postschiff heute Abend zurück sind? Sieht
doch nach einer Kleinigkeit aus ...
Ein kurzer
Stopp mit einem Blick auf die Karte nährt diese Hoffnungen:
In Fingerbreiten und dem mitteleuropäischen
Umrechnungsschlüssel von gut vier Kilometern in der Stunde
sollte dies kein Problem sein. Geht es wieder in die Senke
zurück, liegt die Konzentration beim sicheren Schritt auf
diesem unangenehmen Untergrund und genauso sinkt die Moral
wieder.
Das geht
dreimal, fünfmal, zehnmal gut, dann nervt es aber, bei
jedem Abstieg die Höhenmeter zu verschenken, die vorher so
mühsam gewonnen wurden und letztlich doch nicht
voranzukommen. Aber aus dieser Berg und Talfahrt gibt es
offensichtlich kein Entkommen. Oder doch? Warum folgen wir
nicht direkt der Küste auf Meeresniveau. Frei nach dem
Motto: Einmal unten, immer unten.
Gesagt,
getan. Und bald knirschen die Kiesel unter unseren Sohlen.
Der weiche Untergrund und der Schwemmsand machen das
Vorankommen jetzt aber zu einer viel schlimmeren Tortur, so dass
wir freiwillig zu unserer Kammgalerie zurückkehren. Noch
dazu, wo uns jetzt nur mehr der Aufstieg zum Hochplateau
fehlt. Spätestens ab dort sollte es ja vorangehen wie auf
einer Autobahn. Ob wir in zwei Stunden schon am Ziel sind?
Wäre ja super, dann könnten wir noch gemütlich essen,
packen, durch Mehamn schlendern und morgen wären wir in
Vardø!
Spielplatz
der Riesen
Der Weg zum
Hochplateau ist eine veritable Herausforderung an unsere
Steigfähigkeiten, von einer »Autobahn« ist oben aber
relativ wenig zu sehen. Zumindest wäre eine solche hier nur
für das Mondfahrzeug der Apollo-Mission befahrbar: In
Terrassen, die immer wieder von neuen Einschnitten zerrissen
werden, steigt das Land stetig an. Es scheint, als hätten
hier einst die eddischen Riesen mit Felsbrocken gespielt,
aber ihre Kinderstube nicht mehr aufgeräumt. Wir stolpern
auf jeden Fall mehr herum als wir gehen, bleiben aber
dennoch stets zuversichtlich: Diese Höhe noch, dann aber
wird alles anders werden ...
Zumindest
die Zeit schreitet voran: Vier Uhr nachmittags zeigt die Uhr
bereits, aber zum Nordkinn ist es noch ein weiter Weg –
die Sache mit der Abendfähre könnte knapp werden.
Dafür
laufen wir endlich auf einem Höhenniveau, zwar nicht in der
Ebene, aber das Rauf und Runter hat vorläufig ein Ende.
Entschädigt werden wir mit einer neuen Überraschung. Was
ist denn das dort drüben? Eine Bodenstation der
Außerirdischen? Knapp daneben. Auf dem öden Hochplateau
liegt das Wrack eines deutschen Bombers, der in den Kampf um
das Schlachtschiff »Scharnhorst« eingreifen wollte, und
dabei abgeschossen wurde. Ob der unglückselige Pilot von
hier den Weg nach Mehamn geschafft hat? Wir wissen es nicht.
Positive Gedanken hatte er für das Nordkinn sicher nicht
übrig.
Schimäre
im Nebelmeer
Und auch
unsere zerfließen schön langsam. Denn jetzt packt uns mit
aller Gewalt eine Böe nach der anderen, und Regenschauer
peitschen uns ins Gesicht. Knapp ein halber Kilometer muss
es noch sein, das wäre ja doch gelacht! Wir kommen an, und
sind doch nicht am Ziel. Was wir schon für den 237 Meter
hohen Felsabbruch ins Meer hielten war nur der Vorgipfel.
Dahinter bricht ein schauriger Schotterhang in eine riesige
Wanne ab und zieht sich auf der gegenüberliegenden Seite
wieder in die Höhe. Der Wind zerrt an uns, das Ziel unserer
Träume verschwindet im Nebelmeer und zeigt sich uns nur
mehr schimärenhaft.
Ob wir es
nicht doch versuchen sollten? Gudrun hält meine Idee –
wieder einmal – für grenzenlos unverantwortlich. Und
recht hat sie. Der Gedanke an die rutschigen Steine, den
unberechenbaren Wind und noch dazu den gewaltigen
Rückmarsch, der mangels Zelt heute noch bewältigt werden
möchte, lassen auch mich bald wieder den Boden der
Tatsachen finden. Zumal wir davon ausgehen können, dass in
diesem Moment sicher niemand mehr vor, stattdessen aber alle
Europäer hinter uns sind.
Im
Nieselschauer tappen wir über die Hochfläche zurück.
Eisig kalt ist es mit einem
Mal geworden und jetzt, um sieben Uhr abends, muss der
Gedanke an die warmen Schlafsäcke noch für geraume Zeit
verschoben werden. An das Postschiff denke ich schon längst
nicht mehr. Hätten wir doch lieber das Zelt hierher
mitgenommen. Aber unsere Rechnung war auf Schnelligkeit
statt Komfort und damit Gewicht ausgerichtet. Bei einem
kleinen See verzehren wir unsere verbliebenen Müsliriegel
und machen uns so fit für die nächsten Stunden. Auf einer
neuen, besseren Route wollen wir jetzt laufen: Nicht mehr im
Auf und Ab des Steinmeeres, sondern nur mehr oben auf den
Wogen.
Es sollte
beim Traum bleiben. Das Nordkinn lässt sich nicht so leicht
austricksen, erst am nächsten Morgen erreichen wir in der
Frühe mit dicken Beinen und zerschundenen Knöcheln wieder
unser Zelt. »Das nächste Mal«, denke ich, als ich
Richtung Nordkinn blicke, das jetzt von rosafarbenen
Wölkchen sanft umschmeichelt wird, »das nächste Mal werde
ich eine andere Route finden. Alles wird viel schneller und
viel einfacher gehen und auch deine letzten Schotterhänge
werden mich dann nicht mehr aufhalten können! « Wünschen,
ja wünschen kann man sich zum Glück vieles.
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