Grönland
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Kurzinfo Grönland 
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Grönland: Kurztrip zum ewigen Eis

Die Sonne verschwindet ohne eine Änderung ihrer Farbe hinter einem spitzen Berg. Der Gipfel zerschneidet im leichten weißen Nebel die Sonnenstrahlen. Nebelbänder bedecken teilweise die hausgroßen Eisberge. Am Ende des Horizonts vereinen sich übergangslos Himmel und Erde. Das Meer wird zu einem honigmilchigen Brei. Vor mir treiben kleine Eisstücke in dem dicken Wasser. Es wird merklich kühler. Ich wundere mich über zwei kleine Eisberge, die in dem sonst ruhigen Wasser immer wieder auftauchen und verschwinden. Es sind keine Eisberge, sondern die Finnen von zwei großen Walen, die abwechselnd auftauchen und direkt an mir vorbei schwimmen. Als sie auf meiner Höhe sind, bleiben beide Wale eine Weile unter Wasser und kommen erst einige Dutzend Meter wieder abwechselnd nach oben, um dann ihren Weg rhythmisch fortzusetzen. Sie müssen mich bemerkt haben! In der weiten Stille und durch die klare Luft kann ich ihren Blas hören und die feinen Wassertropfen beim Ausatmen aus ihren Luftlöchern sehen. Immer weiter und kaum hörbar schwimmen die Kolosse davon.

Mit der Fluggesellschaft Odin Air starte ich vom Flughafen in Reykjavik nach Kulusuk an der grönländisch Ostküste etwas unterhalb des Polarkreises gelegen. Mit Mühe und Not erreiche ich das Büro von Odin Air in der Nähe des Hotels Loftleidir. Von dort soll der Flug um 10 Uhr starten, und ich bin spät dran. Doch Grönland meldet Nebel, der Abflug muss zwei Mal verschoben werden. Um 12 Uhr hebt die kleine Maschine endlich ab, zwei Stunden Flugzeit über den Nordatlantik stehen mir bevor.

Schwitzende Eisberge

Kurz vor der ostgrönländischen Küste sehe ich riesige Eisberge in der Dänemark-Straße treiben. Durch die warme Sonne - es ist Anfang August - schmelzen sie, und aus der Luft kann ich die Verdunstungswolken in den Himmel steigen sehen. Die Giganten schwitzen. Dahinter tauchen die zackigen, schneebedeckten Küstenberge von Grönland auf.

Der Nebel am Flugplatz auf der Insel Kulusuk hat den Blick auf die Piste freigegeben, doch an den Berghängen hängen die Nebelschwaden schichtweise übereinander. Die Maschine landet dennoch problemlos. Als ich aussteige, empfängt mich eine angenehme trockene Kühle. Im Meer treiben große Eisberge durch die Nebelbänder, und die Sonne scheint vom blauen Himmel. Eine Zollkontrolle gibt es nicht, obwohl ich mich jetzt auf dem amerikanischen Kontinent befinde.

Tor zur anderen Welt

Zum Dorf Kulusuk führt keine erkennbare Straße. Mit Rucksack wandere ich die wenigen Kilometer über den steinigen und sumpfigen Tundraboden. Als ich mich vorsichtig über ein Eisfeld taste, sehe ich plötzlich das Dorf aus den Nebelschwaden auftauchen. Vorne in der Bucht ankern Schiffe, Boote und Eisberge. Die bunten Holzhäuser liegen kreuz und quer in der Landschaft herum, es gibt keine Straßen. Die fernen Berge hinter dem Dorf sind unscharf erkennen. Etwas Verwunschenes hat der Anblick, als ob sich das Tor zu einer anderen Welt öffnet.

Zwischen zwei Häusern sind viele weiße Holzkreuze: die Toten von Kulusuk. Dazwischen hängen volle Wäscheleinen, spielen grönländische Kinder. Als sie mich sehen, verschwinden sie kurz und tauchen sofort wieder mit Andenkentrödel und den Tupilaks (kleine Figuren aus Speckstein) bepackt auf. "Souvenir, Souvenir...", rufen sie und drängen sich um mich.

Gewehre und Alkohol

Die Fluggesellschaft Odin Air hat neben einem Gästehaus ein Verwaltungshaus. Dort werden die Tagesgäste, die nachmittags wieder nach Island zurückfliegen, und ich bei einer kleinen Mahlzeit empfangen. Dort bekomme ich auch den Schlüssel für das Gästehaus.

In dem Gästehaus, welches ein doppelstöckiges gelbes Holzhaus ist, bereiten sich zwei Österreicherinnen auf ihre Abreise vor. Sie erzählen mir von "leichten Problemen mit den Einheimischen". Diese seien in der letzten Nacht wohl schon leicht alkoholisiert mit Gewehren bewaffnet in das Haus gestürmt und wollten was Hartes zum Trinken haben. Es habe den beiden Österreicherinnen Zeit und Schweiß gekostet, sie wieder hinaus zu schaffen.

Sie zeigen mir noch die Wasserstelle, denn fließendes Leitungswasser gibt es hier nicht. Dann schultern sie ihre Rucksäcke, verabschieden sich und marschieren zum Flugplatz. Jetzt ich bin alleine im Haus.

Es gibt zwar Strom, aber keine Betten. Und die Toilette verdient ihren Namen nicht. Fingerdick liegt der Staub in den Ecken. Dafür kann ich die Hütte umsonst nutzen. Hier soll ich zwei Nächte verbringen.

Satelliten-TV

Nachdem ich meinen Rucksack abgelegt habe, schaue ich mir das Dorf näher an. Einige Kulusuker fahren mit dick bereiften, vierrädrigen Mopeds, neudeutsch Quads, durch das Gelände. An den Häuserwänden sind vereinzelt Satellitenschüsseln angebracht. In einem Reisebuch habe ich gelesen, dass die Grönländer das für die Realität hielten, was sie im Fernseher sähen. Wenn im Spielfilm einer erschossen werde, dann sei er für die Grönländer wirklich tot. Und ich schlafe alleine in dem Haus...

Im Postamt will ich einer Freundin per Telegramm zum Geburtstag gratulieren. Der dort arbeitende Grönländer kann kein Deutsch, Englisch oder Französisch und ich kein Grönländisch oder Dänisch. Auf jeden Fall schickt er mich mit Händen und Füßen gestikulierend zum Hafen Dort stehe ich dann und frage mich, was der wohl in aller Welt verstanden hat.

Bellende Hunde

Überall im Dorf ist Hundegejaule zu hören. Die halbwilden Schlittenhunde sind im Sommer arbeitslos und liegen an langen Ketten überall im Dorf herum. In einer Bodennische versorgt eine Hündin ihre jungen Welpen. Gerade in der jüngeren Zeit rücken diese Schlittenhunde und die Umstände, in denen sie leben, immer mehr in den Fokus der Tierschutzvereine.

Mein nächstes Ziel ist ein kleiner Hügel in der Nähe. Auf meinem Weg dorthin sehe ich das Flugzeug von Odin Air am Himmel gen Osten entschwinden.

Der Weg zu dem Hügel ist beschwerlich. Überall liegen Geröll, leere Flaschen und Dosen. Letzten Winter sollen hier zwei Eisbären gesehen worden sein. Bewegt sich da nicht was? Viele kleine Bäche mit sumpfigen Boden und glitschigen Steinen muss ich passieren. Schnell kann ich hier nicht laufen.

In der klaren Luft täuscht die Entfernung. Der Hügel ist doch ein gutes Stück weiter weg und entpuppt sich als kleiner Berg. Die Aussicht ist dennoch phantastisch. Im Sonnenlicht sind die Farben extrem klar zu erkennen. Jede noch so feine Nuance springt direkt ins Auge.

Auf dem Rückweg kommen mir zwei lustige Grönländer mit einem Radio entgegen, sie üben wohl für einen Zirkusauftritt. Sie sehen meine Kamera und wollen unbedingt fotografiert werden; dem Wunsch komme ich gerne nach. Danach entschwinden sie im Geröll, immer intensiv um ihr Gleichgewicht bemüht. Ich wandere zum Ufer und sehe über eine Müllkippe hinweg das beeindruckende Küstenpanorama. Alles ist blau, der Himmel, das Meer und die Eisberge.

Zurück im Dorf muss ich einem Grönländer ausweichen, der versucht, ein Ofenrohr zu transportieren. Oder übt er auch für den Zirkus?

Obwohl es noch früh ist, überlege ich, mich schlafen zu legen. Die Zeitverschiebung von minus vier Stunden macht sich bemerkbar, ich bin hundemüde. Doch ich will den Sonnenuntergang am Meer sehen. Ich gehe durch das Dorf wieder zur Küste und setze mich neben der Müllkippe auf die Flechte am Boden und habe einen traumhaften Blick über einen Sund namens Torssût. Dabei habe ich dieses eingangs beschriebene einmalige Walerlebnis!

Gefrierender Schlamm

Es wird schnell dunkler, die Kälte des nahen mächtigen Inlandeises lässt die Temperatur schnell unter den Gefrierpunkt sinken. Der aufgetaute Schlamm wird wieder zu einer festen Masse. Dazwischen spielen Kinder, und ein Grönländer, der nur ein Bein hat, humpelt an seinen Krücken durch den gefrierenden Schlamm. Die Schlittenhunden heulen auf, verstummen, um wieder aufs Neue los zu heulen. Ich marschiere zurück zur Hütte, und voll mit diesen Eindrücken lege ich mich schlafen.

Die Nacht ist ruhig, keine bewaffneten betrunkenen Grönländer stören meinen Schlaf. Über Kulusuk hängt wieder dicker Nebel. Im Verwaltungshaus von Odin Air bekomme ich von Dänky, dem Manager von Odin Air auf Grönland, einen Kaffee. Er erzählt mir von seinem Job und von Kulusuk. Von Juni bis September lebt er hier und organisiert alles für die Fluggesellschaft. Er ist auch Ansprechpartner für die Rückflüge von Grönland nach Island.

Grönländisches Feuerwasser

In Kulusuk leben ungefähr 350 Menschen. Außer einem gewählten Bürgermeister gibt es eine Feuerwehr und einen Polizisten. Sogar ein Gefängnis steht hier. Während unseres Gespräches tanzt der Grönländer, der Dänky im Hause helfen soll, kräftig hin- und her. Wahrscheinlich übt er für den Zirkus. Dänky schickt ihn nach Hause.

Dänky erzählt von den Alkoholproblemen hier in Kulusuk. Einmal mit dem Trinken angefangen, kommen sie davon nicht mehr los. Dänky vergleicht das mit den Indianer und dem Feuerwasser. Es gibt keine soziale Betreuung bei der Sucht, so dass die Grönländer völlig alleine mit dieser Krankheit sind. Die Krankenschwester im Dorf - einen Arzt gibt es nicht - hat damit alle Hände voll zu tun.

Außerdem sagt er mir, dass heute mehrere Engländer aus Ammassalik eintreffen und einige Touristen aus Island kommend ebenfalls für eine Nacht bleiben wollen.

Der Grönländer im Postamt begreift mittlerweile, dass ich telefonieren will. Ich gebe ihm einen Zettel mit der Telefonnummer inklusive allen erforderlichen Vorwahlen. Doch irgendwie ist immer wieder besetzt. Nach einiger Zeit bemerkt ich, dass er eine Vorwahl falsch in die Wählscheibe dreht. Er bittet mich wieder heftig gestikulierend, das mal selbst zu machen. Prompt bei ersten Wählversuch komme ich durch, übermittele die Geburtstagsglückwünsche, werde 22 Dänische Kronen los, und wenige Minuten später bin ich wieder weg.

White Out

Im Haus von Odin Air treffe ich Dänky wieder. Er will am gleichen Tag wie ich nach Reykjavik fliegen, da er zu einer Hochzeit eingeladen ist. Spontan schlage ich vor, doch für Touristen eine Schau der aktuellen grönländischen Brautmode zu veranstalten. Das wäre bestimmt interessant.

Neuankömmlinge füllen das Haus. Dabei lerne ich meine neuen Mitbewohner kennen: drei Holländer, ein Paar aus der Schweiz und aus Ammassalik trifft eine vierköpfige, englische Expeditionsgruppe ein.

Die Arktis erfahrenen Engländer hatten versucht, das Inlandeis zu durchqueren. Doch bei einem Schneesturm - einem White Out - verlor einer von ihnen die Nerven, und die Expedition musste nach vier Wochen abgebrochen werden. Ursprünglich sollte sie 50 Tage dauern. Recht schweigsam sind die Engländer.

Gigantisches Eis

Am Hafen finde ich einen grönländischen Fischer, der mich mit seinem Boot zu den Eisbergen fahren will. Mit Händen und Füßen verständigen wir uns, und wir tuckern den weißen Riesen in der Nachmittagssonne entgegen. Im direkten Kontakt zu solchen Eisbergen zu sein, ist für mich was Beeindruckendes. Wie hoch sie sind, kann ich nicht schätzen. Aber wenn ich mir vorstelle, dass nochmals ca. 8/9 dieser Eismasse unsichtbar unter Wasser sind... Dieser Gedanke sprengt schon fast meine Vorstellungskraft. Das Weiß mit seinen bizarren Konturen im Kontrast zu dem stahlblauen Himmel sieht faszinierend aus. Überall läuft das Tauwasser an den Giganten herunter, sie schmelzen in der heißen Augustsonne. Bis sie jedoch wieder ganz zu Wasser werden, können noch Jahre vergehen.

In der Hütte ist jetzt richtig Leben, zehn Leute schlafen im Gästehaus. Um betrunkene bewaffnete Grönländer brauche ich mir keine Gedanken mehr zu machen. Der nächste Tag ist wieder sonnig, und die Wetterstation vermeldet plus (!) 16 Grad Celsius - der wärmste Tag in Kulusuk in diesem Sommer, sagt Dänky. Vor dem Gästehaus sitzen die Engländer mit nacktem Oberkörper in der warmen Sonne.

Elf Leute im Jeep

Am Nachmittag marschieren die Engländer, Dänky und ich zu einer Straße, die ich im Gelände nur mit sehr viel Fantasie erahnen kann. Dort wartet ein Jeep, der uns zum Flugplatz bringen soll. Zu den sechs großen Rucksäcken und diversen Taschen und Beuteln quetschen wir uns mit zehn Leuten plus Fahrer hinein. Als wir nach kurzer, aber holpernder Fahrt am Flugplatz ankommen, denke ich darüber nach, dass es wohl doch besser gewesen wäre, zu Fuß zu gehen. Zu spät! Die kleine Jetstream von Odin Air steht startklar an der Piste, startet und der Flieger hebt ab.

Unter uns werden das Dorf und die Eisfelder immer kleiner; Grönland verschwindet aus meinen Augen hinter dem Horizont.

 

Autor: Th. Bujack
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Schwitzende Eisberge vor der grönländischen Ostküste

Nebelbänder verschleiern den Blick

Das Dorf Kulusuk im Morgennebel

Zwischen den Häusern sind überall weiße Kreuze

Heulende Schlittenhunde, im Sommer sind sie arbeitslos

Zwei Grönländer haben Spaß an ihrem Weltempfänger

Der Blick über den Sund Torssût, einmal vormittags, nachmittags und abends

Dorfklatsch in Kulusuk

Eisgiganten im Meer

Grönland aus der Luft, ein Labyrinth aus Eis und Stein

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